In der Waadt befindet die Stimmbevölkerung noch in diesem Jahr über eine kantonale Initiative, die eine staatliche Zahnversicherung für alle fordert. Das von linken Parteien und Gewerkschaften lancierte Volksbegehren verlangt eine obligatorische Versicherung für Zahnbehandlungen. Der Kanton Waadt soll zudem ein Netz von regionalen Zahn-Polikliniken zur Verfügung stellen. Die Finanzierung der Zahnversicherung – die Initianten rechnen mit Kosten von 350 Millionen Franken – soll durch eine Lohnabgabe nach AHV-Modell erfolgen, je hälftig getragen durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer.
Ähnliche Vorstösse sind in den Kantonen Genf, Freiburg, Neuenburg, Jura, Wallis und im Kanton Tessin hängig. Das Ergebnis der Waadtländer Abstimmung dürfte für diese Kantone eine wichtige Signalwirkung haben.
Gezielte Unterstützung statt Giesskannenprinzip
Die Waadtländer Regierung hat kürzlich ihren Gegenvorschlag zur Initiative vorgestellt. Das Motto lautet: kein Giesskannenprinzip, sondern gezielte Unterstützung für junge und einkommensschwache Familien. So will der Kanton bei Jugendlichen die Hälfte der Zahnarztkosten übernehmen, Schulen sollen vermehrt Prophylaxemassnahmen vermitteln. Erwachsene erhalten Unterstützung, wenn die Zahnarztkosten 3 Prozent ihres Jahreseinkommens übersteigen. Für Rentner ist sogar eine Gratis-Zahnkontrolle zuhause vorgesehen.
Die Massnahmen sollen zur Hälfte durch eine Steuer auf Süssgetränke finanziert werden. Gesundheitsdirektor Pierre-Yves Maillard (SP) schlägt eine Abgabe auf zuckerhaltige Getränke vor, maximal 30 Rappen pro Liter. Erhoben würde diese Konsumsteuer bei Grossverteilern, welche die Detailhändler in der Waadt beliefern. Die andere Hälfte der Kosten soll durch die Arbeitnehmer mit einer Abgabe von 0,06 Lohnprozenten finanziert werden.
Winkt der Waadtländer Grosse Rat den Gegenvorschlag durch, könnte das Volk im Herbst über Regierungsvorschlag und Volksinitiative abstimmen.
Das Prinzip Selbstverantwortung
Als das Krankenversicherungsgesetz (KVG) 1996 in Kraft trat, waren Zahnbehandlungen (mit wenigen krankheits- oder unfallbedingten Ausnahmen) von der obligatorischen Krankenversicherung ausgenommen. Die Schweizer Zahnärztinnen und Zahnärzte hatten sich erfolgreich gegen ein Versicherungsobligatorium gewehrt – dies mit dem Hinweis, dass die meisten Zahnschäden vermeidbar sind: Der Staat dürfe nicht in das Vertrauensverhältnis zwischen Zahnarzt und Patient eingreifen, die Wahl der Behandlung solle in gegenseitigem Einvernehmen erfolgen. Seither gilt für die Zahnmedizin das Prinzip der Selbstverantwortung: Wer seine Zähne nicht oder unzureichend pflegt, kommt für die Folgekosten meist selber auf.
Dieses Schweizer Modell hat sich bewährt: In den letzten 50 Jahren sind die Kariesschäden bei Kindern und Jugendlichen um 90% zurückgegangen; dank Schulzahnpflege, Prophylaxe und regelmässigen zahnärztlichen Kontrollen ist gute Mundhygiene für die Schweizer Wohnbevölkerung selbstverständlich. Die durchschnittlichen Kosten für Zahnbehandlungen halten sich mit etwa 40 Franken pro Person und Monat in Grenzen. Im Verhältnis zu den übrigen medizinisch-ambulanten Kosten sind die Kosten der Zahnmedizin nur moderat gestiegen.
Die Romandie tickt anders
Alle Vorstösse für eine obligatorische Zahnversicherung auf Bundesebene sind bis heute gescheitert. In der Deutschschweiz waren sie bislang kaum ein Thema. In der Romandie (und im Tessin) dagegen ist die Haltung weit verbreitet, dass staatliche Fürsorge die sozialen und gesundheitlichen Nöte der Bürgerinnen und Bürger lindern muss.
Der Gegenvorschlag zur Waadtländer Initiative ist geschickt konzipiert und ausgehandelt – doch stellt sich die Frage, ob hier nicht der Teufel durch den Beelzebub ausgetrieben wird: SP-Regierungsrat Maillard argumentiert zwar zu Recht, der Zusammenhang zwischen Karies und Süssgetränken sei offensichtlich. Aber braucht es dazu eine staatliche Steuer? Und was ist mit anderen zuckerhaltigen Nahrungsmitteln – weshalb werden sie verschont? Und warum soll der Staat in ein bestens funktionierendes Modell eingreifen, das sich als äusserst effizient erwiesen hat? Handlungsbedarf besteht am ehesten bei Kindern mit Migrationshintergrund, wo die Karies tendenziell wieder zunimmt. Doch dieses Problem lässt sich auf Gemeindeebene durch Schulzahnärzte und Prophylaxemassnahmen lösen, dafür braucht es kein kantonales Gesetz.
Kernelemente einer Nein-Kampagne
Wer in der Romandie eine etatistische Initiative bekämpft, braucht Know-how in politischem Campaigning und muss überzeugende Antworten liefern. Soviel ist klar: Die Waadtländer Initiative greift ein Anliegen auf, das bei breiten Bevölkerungsschichten auf Sympathie stösst.
Eine erfolgreiche Nein-Kampagne muss deshalb aufzeigen, dass ...
- ... der Nutzen und Erfolg der zahnmedizinischen Grundversorgung auf Selbstverantwortung und Prophylaxe beruht;
- ... dieses Modell erfolgreich, effizient und nachweisbar kostendämpfend ist;
- ... Menschen mit schlechten Zähnen und bescheidenem Einkommen durch bewährte Einrichtungen bereits heute geholfen wird;
- ... eine staatliche Versicherungslösung auch einen Eingriff in die freie Vereinbarung zwischen Zahnarzt und Patient bedeutet;
- ... eine staatliche Versicherungslösung auch unerwünschte Folgen haben kann, zum Beispiel steigende Kosten bei sinkender Qualität der Zahnbehandlungen (Stichworte: Anspruchsmentalität, sinkende Effizienz)
Weiterführende Links:
Website der Waadtländer Initianten für eine staatliche Zahnversicherung
«Une politique dentaire à 38 millions pour les Vaudois», 24heures
«Pierre-Yves Maillard veut taxer les sodas pour financer les soins dentaires», Le Temps
«Schmerz lass nach: Diskussion um obligatorische Zahnversicherung neu lanciert», SRF 4 News aktuell
«Erfolgsmodell Zahnmedizin braucht kein Obligatorium», Dossier Economiesuisse 7 / 2016
Bildquelle: Shutterstock