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Interview Dr. Kim zum Patientendossier_Headerbild

«Das elektronische Patientendossier gewährleistet eine bessere und sichere Behandlung.»

consign im Gespräch mit Dr. Sang-Il Kim, Leiter digitale Transformation am Bundesamt für Gesundheit (BAG). Die Themen: Einführung des elektronischen Patientendossiers (EPD) und aktuelle Herausforderungen der e-Health-Strategie.


consign
: Sie sind seit acht Monaten Leiter der Abteilung Digitale Transformation am Bundesamt für Gesundheit. Was sind zurzeit Ihre wichtigsten Baustellen?

Dr. Kim: Aktuell beschäftigen mich drei grössere Bereiche. Erstens die Krisenbewältigung rund um das Corona-Virus. Ich bin mitten in der ersten Covid-19-Welle zum BAG gestossen und habe schon bald die Verantwortung für die Swiss-Covid-App übernommen. Diese App läuft zwar zufriedenstellend, aber sie muss weiterentwickelt werden. Zudem müssen wir sicherstellen, dass auch die Prozesse rund um die App funktionieren. So stellen wir den Kantonen IT-Systeme bereit, um sie beim Contact-Tracing zu unterstützen und den Informationsaustausch zu verbessern. Für all diese Projekte bin ich der Hauptansprechpartner. Zweitens begleite ich mit meiner Abteilung das elektronische Patientendossier im Zertifizierungs- und Akkreditierungsprozess. Schliesslich steht auch die digitale Transformation innerhalb des Bundesamts für Gesundheit an. In den kommenden Monaten werde ich mir einen Überblick verschaffen und gemeinsam mit meinen Kolleg*innen Ziele und Mittel definieren. Anschliessend müssen wir unsere zukünftige Digitalisierungsstrategie entwickeln.

consign: Denken Sie, dass Sie bei einer nächsten Pandemie den Informationsfluss und die Aufbereitung der Statistiken besser steuern können?
Dr. Kim: Jede Pandemie hat wieder eine andere Charakteristik. Beim nächsten Mal werden wir aber besser vorbereitet sein, besonders in Bezug auf die Informationsflüsse. So werden wir die Kommunikationsprobleme zwischen Labors, Kantonsärzten und dem Meldesystem des BAG beseitigen, Medienbrüche zwischen einzelnen Kommunikationsstellen – Stichwort Fax – wird es in Zukunft nicht mehr geben.

consign: Um die Digitalisierung im Gesundheitswesen voranzutreiben, hat der Bund die «eHealth-Strategie» entworfen. Warum ist Digitalisierung im Gesundheitswesen so wichtig?
Dr. Kim: Bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen geht es zuallererst um eine bessere Behandlung der Patient*innen. Im Vergleich mit anderen Ländern ist die Qualität der Behandlung in der Schweiz bereits sehr hoch. Trotzdem sind viele Möglichkeiten, die uns die Digitalisierung im Gesundheitsbereich bietet, heute noch ungenutzt. Es geht dabei nicht nur um eine sicherere Behandlung der Patient*innen, sondern auch um zahlreiche Erleichterungen für die Arbeit der Gesundheitsfachpersonen: Medienbrüche werden verhindert, Prozesse vereinfacht und Daten stehen genau dann zur Verfügung, wenn sie gebraucht werden.

consign: Können Sie ein Beispiel nennen?
Dr. Kim: Ein naheliegendes Beispiel ist die Medikation. Menschen, die viele Medikamente einnehmen, wissen oft nicht, welche Medikamente sie nehmen müssen, wann sie sie nehmen müssen – und wieviel sie davon nehmen müssen. Ärzt*innen und Apotheken haben selten einen umfassenden Gesamtüberblick über die Medikation eines Patienten oder einer Patientin. Wir wissen, dass heute viele Komplikationen in der medizinischen Behandlung durch Falschmedikation, Falscheinnahmen usw. passieren. Die Digitalisierung hilft, den Überblick über die gesamte Medikation und damit geeignete Behandlungsmethoden sicherzustellen.

consign: Werden Sie für sich ein elektronisches Patientendossier anlegen, sobald das möglich ist?
Dr. Kim: Das werde ich unbedingt tun. Ich möchte sogar bei den Ersten sein, die ein EPD eröffnen, sobald die erste Stammgemeinschaft das anbietet.

consign: Was sind denn die Vorteile, die Patient*innen durch das EPD haben?
Dr. Kim: Der grosse Vorteil liegt darin, dass in einem virtuellen Dossier alle relevanten medizinischen Informationen jederzeit elektronisch abrufbar sind. Das Dossier ist eine «Schaltzentrale» der medizinischen Information der Zukunft: Medizinische Informationen sind für Patient*innen jederzeit einsehbar, sie können diese auch Gesundheitsfachpersonen zugänglich machen. Dazu kann ich Angehörigen stellvertretend erlauben, mein Dossier zu pflegen. Heute sind die wichtigen Informationen überall verteilt, wo man in Behandlung war. Das EPD ermöglicht es, all diese Daten zentral abzulegen und zu verwalten.
Das elektronische Patientendossier ist immer mit dabei
consign: Sie sagen, die Daten im EPD sind sicher. In der Bevölkerung sind trotzdem grosse Bedenken bezüglich des Datenschutzes vorhanden. Was haben Sie konkret unternommen, um den Datenschutz sicherzustellen?
Dr. Kim: Der aufwändige Zertifizierungs- und Akkreditierungsprozess sorgt dafür, dass Datensicherheit und Datenschutz bestmöglich eingehalten werden. Es geht nicht nur um technische Aspekte, sondern auch um Prozesse, die das Datenhandling von Gesundheitsfachpersonen regeln. Im Rahmen der Zertifizierung erklären wir den korrekten Umgang mit elektronischen Daten und kontrollieren, ob die Prozesse eingehalten werden. Die Personen müssen wissen, wie mit sensiblen Daten umzugehen ist. Wir haben aber auch auf der technischen Seite die sichersten Prozesse implementiert, die aktuell möglich sind. Es ist uns sehr wichtig, dass die Patient*innen die Hoheit über ihre Daten behalten. Deshalb haben wir weltweit wohl das sicherste Berechtigungssystem für externe Zugriffe auf das EPD. Patient*innen können sehr fein abstimmen, wer welche Daten einsehen darf. Jeder Zugriff wird protokolliert, und die Nutzenden können nachverfolgen, wer auf ihre Daten zugegriffen hat.

consign: Wo werden diese Daten physisch gespeichert?
Dr. Kim: Diese Daten werden in den Stammgemeinschaften gespeichert. Wenn ich zum Beispiel in der Stammgemeinschaft des Kantons Aargau ein EPD eröffne, dann werden die Daten in der Infrastruktur dieser Organisation gespeichert. Wenn ich aus irgendeinem Grund in Genf behandelt werde, so speichert das Genfer Krankenhaus die Daten in ihrer eigenen Stammgemeinschaft ab. Es ist also möglich, dass meine Daten auf verschiedenen Servern verteilt sind. Über das EPD kann ich aber immer auf alle Daten zugreifen – unabhängig davon, wo sie gespeichert sind. Das EPD funktioniert also dezentral.

consign: Was, wenn ich ohnmächtig bin und dem Spital in Genf keine Bewilligung erteilen kann?
Dr. Kim: Für den Fall, dass keine Bewilligung erteilt werden kann, haben wir den sogenannten «Notfallzugriff» vorgesehen. Gesundheitsfachpersonen können so trotzdem auf die Daten der Patient*innen zugreifen. Voraussetzung ist, dass die Patientin / der Patient den Notfallzugriff erlaubt und dass die behandelnde Fachperson im System des EPD registriert ist.

consign: Wie sieht es bei der technischen Umsetzung aus. Ist die Nutzeroberfläche des EPD bei jedem Anbieter verschieden oder gibt es einen einheitlichen Standard?
Dr. Kim: Für die technische Umsetzung hat der Gesetzgeber gewisse Mindestanforderungen definiert. Rund um diese Vorgaben sind verschiedene Portallösungen entstanden, die sich in der Bedienung und Benutzbarkeit voneinander unterscheiden. Letztlich entscheiden die Stammgemeinschaften, welche Plattform sie nutzen möchten. Aktuell haben sich in der Schweiz vier Plattformen durchgesetzt.

consign:Das Anbieten eines EPD ist für Spitäler und Pflegeheime obligatorisch. Für Pflegedienste und Hausärzt*innen ist es jedoch freiwillig. Wieso diese Unterscheidung?
Dr. Kim: Der Hauptgrund liegt in der politischen Entscheidungsfindung. Im Parlament und im Bundesrat wurden verschiedene Szenarien durchgespielt. Beim obligatorischen Einbezug der Hausärzt*innen und Pflegedienste gab es unterschiedliche Meinungen. Die Lösung, die wir heute haben, ist ein gutschweizerischer Kompromiss. Durch die zugestandene Freiwilligkeit wurde die Gefahr eines Referendums entschärft.

consign: Habe ich als Patient die Möglichkeit, die Dokumentation meines Hausarztes im EPD abzulegen, selbst wenn dieser keiner Stammgemeinschaft angeschlossen ist?
Dr. Kim: Ja, diese Option besteht jederzeit. Patient*innen haben das Recht, ihre Patientendaten beim Hausarzt einzufordern. Sie können diese dann selber digitalisieren und im EPD ablegen. Das ist aufwändig – wir haben natürlich die Hoffnung, dass das EPD direkt und automatisiert durch Ärzteschaft und Spitex-Organisationen betreut wird.

consign: Manche Kritiker behaupten, das EPD sei ein «PDF-Grab», da die abgelegten Dokumente zu wenig strukturiert sind, um einen Mehrwert für die Behandlung zu bieten. Wie sehen Sie das?
Dr. Kim: Es ist richtig, dass das EPD zu Beginn hauptsächlich PDF-Dokumente enthält. Gleichzeitig hat es aber grosses Entwicklungspotenzial: Es wird mittelfristig möglich sein, strukturierte Daten im EPD abzulegen. Diese können dann von Maschinen und IT-Systemen bearbeitet werden. Nichtsdestotrotz helfen Filter- und Suchfunktionen dabei, relevante Informationen in PDF-Dokumenten schnell zu finden; deutlich einfacher als dies bei Papierdokumenten der Fall ist.Das Patientendossier vernetzt Akteure im Gesundheitsbereich
consign: Was ist der Mehrwert, den das EPD einer Arztpraxis bietet?
Dr. Kim: Die Vorteile des EPD sind vielseitig, und jede Praxis wird selber für sich herausfinden müssen, wie sie das EPD nutzen will. Ein zentraler Vorteil besteht darin, dass Ärztinnen und Ärzte jederzeit auf Informationen zugreifen können, die von Berufskolleg*innen oder den Patient*innen selber stammen. Patient*innen können eigene Gesundheitsdaten wie Trainingsdaten, Blutdruckwerte oder Schmerztagebücher im EPD verwalten. Da die Gesundheitsfachperson von Anfang an auf wichtige Informationen zugreifen kann, fliessen Risiken und Problemstellungen bereits früh in die Behandlung mit ein. Das zeitraubende Zusammentragen von Informationen fällt weg.

consign: Wie kann ein Arzt sicherstellen, dass alle Informationen im EPD abgespeichert sind?
Dr. Kim: Das EPD hat nicht den Anspruch, die vollständige Krankengeschichte eines Patienten / einer Patientin zu erfassen. Diese Vollständigkeit ist heute nicht gegeben und wird wahrscheinlich nie gegeben sein. Es ist wichtig, dass Patient*innen immer selber entscheiden können, welche Informationen sie weitergeben möchten und welche nicht. Auch im EPD haben Nutzende die Möglichkeit, gewisse Informationen aktiv zu verstecken.

consign: Wird das EPD die Bewältigung einer nächsten Pandemie erleichtern – vorausgesetzt, dass bis dann ein guter Teil der elektronischen Patientendaten vorhanden ist?
Dr. Kim: Das EPD hätte bei der aktuellen Coronakrise nicht viel zur Pandemiebekämpfung beigetragen. Es hätte höchstens im einen oder anderen Fall bei der Behandlung von schwer erkrankten Patient*innen helfen können. Für die nahe Zukunft ist es aber interessant, Testergebnisse und Laborbefunde via EPD einsehbar zu machen. Das könnte so weit führen, dass ein negativer Test auf dem Smartphone als Beleg für gewisse Aktivitäten zählen kann. Auch Impfungen könnten über das EPD ausgewiesen werden. Beide Optionen sind aktuell noch in der Evaluationsphase. Werfen wir den Blick auf die nächste Pandemie, könnten wir der Forschung dank dem EPD rasch eine grosse Anzahl an Daten elektronisch zur Verfügung stellen. Wir möchten Patient*innen dazu ermutigen, dies in Form einer «Datenspende» zu tun.

consign: Der Betriebsstart des EPD ist in der Vergangenheit verschiedentlich angekündigt, aber immer wieder verschoben worden. Wie lautet Ihre Prognose zum Start des EPD?
Dr. Kim: Wir haben seit dieser Woche (Anmerkung consign, KW47) die freudige Nachricht, dass die erste Stammgemeinschaft zertifiziert ist. Es ist die Stammgemeinschaft eHealth Aargau (SteHAG). Ich bin ziemlich sicher, dass die Eröffnung des ersten EPD bereits Anfang 2021 möglich wird. Wie bereits gesagt, werde ich einer der Ersten sein, der dort ein Dossier eröffnen.

consign: Fachleute sind sich einig, dass der Erfolg des EPD stark von der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung abhängt. Wie werden Sie die Menschen zum Umgang mit dem EPD schulen?
Dr. Kim: Es ist richtig, dass die Gesundheitskompetenz einer der kritischen Faktoren für die breitere Nutzung des EPD ist. Auf der einen Seite haben wir die Stammgemeinschaften, Spitäler und Pflegedienste, welche Informationsmaterial zur Verfügung stellen und Patient*innen bei Fragen unterstützen können. Zum anderen hat die Organisation «eHealth Suisse» vom Bund den Auftrag, eine Informationskampagne zu starten. Ich finde es wichtig, dass jeder Patient / jede Patientin selber entscheiden kann, ob er oder sie ein Dossier eröffnen und nutzen möchte. Genau deshalb muss die Bevölkerung aufgeklärt werden, um Vorteile und Risiken des EPD einschätzen und abwägen zu können.

consign: An der Medienkonferenz zur Einführung der Swiss-Covid-App Ende Juni haben Sie mit den Worten «Die App tut nicht weh, sie schadet nicht, sie hilft Ihnen und der Gesellschaft» zum Download aufgerufen. Haben Sie in Bezug auf das EPD eine ähnliche Botschaft an die Bevölkerung?
Dr. Kim: Unbedingt. Die Botschaft lautet: «Nutzen Sie das EPD, es gewährleistet eine bessere und sichere Behandlung!»


Dr. Sang-II Kim

Sang-Il Kim ist seit April 2020 Leiter der Abteilung Digitale Transformation und Mitglied der Geschäftsleitung beim Bundesamt für Gesundheit (BAG). Er hat eine Ausbildung als Dr.med. in Humanmedizin und war als Radiologe in Hamburg tätig. Danach bildete er sich zum Informatiker weiter und arbeitete unter anderem für Siemens und die Schweizer Post. Seit 2015 ist er auch Dozent für Medizininformatik an der Berner Fachhochschule BFH.

Portrait Sang-Il Kim_Interviewpartner

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Bildquelle: Patientendossier.ch

Autor: Felix Adank | 10. Dezember 2020 | 17:00
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10.12.2020 | IT, Gesundheit, Medizin

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